← Zurück Veröffentlicht am

Die Welt wird immer afrikanischer

Unbedeutend, arm, ewig von Krisen und Katastrophen geplagt: Wir sehen ­Zerrbilder, wenn wir auf Afrika ­blicken. Wer sie wegräumt, entdeckt einen Kontinent auf dem Weg in die Zukunft.

Am 18. Juli 1324 herrscht in Kairo grosse Aufregung. Hunderte Bewohner der Stadt eilen zum Westtor, das in Richtung der Gizeh-Pyramiden zeigt. Was sie dort zwischen den Sanddünen erblicken, ist ein beispielloses Spektakel.

Geschätzte sechzigtausend Menschen nähern sich der Stadt, flankiert von Soldaten mit Bogen und Lanze. Manche von ihnen sind in Seide oder Brokat gehüllt, manche tragen Silberschmuck, einige gar armlange Stäbe aus purem Gold. Am Ende der kilometerlangen Karawane folgt, auf einem schwarzen Hengst, der Anfüh­rer. Obwohl erst Mitte dreissig, ist er einer der mächtigsten Herrscher seiner Zeit: Mansa Musa, der König von Mali, einem Wüstenreich in der Sahelzone, so gross wie ganz Europa.

Ägyptische Gelehrte dokumentierten seine An­kunft am Nil vor siebenhundert Jahren aus­führ­lich. Dank ihnen wissen wir auch, dass Musa in Kairo innert Kürze so viel Gold ausgab, dass die dortige Währung einen Viertel ihres Werts verlor – und sich noch zehn Jahre später nicht erholt hatte. Auf umgerechnet vierhundert Milliarden Dollar wird sein damaliges Vermögen geschätzt. Doch bei aller Macht, bei allem Reichtum: Der König von Mali gilt heute höchstens als welthistorische Fussnote, in Europa ist er praktisch unbekannt. Auch ich hörte erst mit Mitte zwanzig von Musa, als Politologie-Austauschstudent an der Makerere University in Uganda. Nicht ohne Stolz wies mich ein Mitstudent darauf hin, dass der wahrscheinlich reichste Mensch der Geschichte ein Afrikaner war. «Nicht Bill Gates, sondern ein Mann aus der Sahara», sagte er.

Für mich war Musas Fünftausend-Kilome­ter-Reise durch die Wüste ein Augenöffner. Sie zeigte mir, wie wenig ich erst wusste über diesen Kontinent und seine Geschichte. Und sie löste in mir, wie ich et­was beschämt feststellte, Erstaunen aus: Der reiche König und sein prunkvoller Pilgerzug – das stand in starkem Kontrast zu meinem Bild von Afrika.

Ich habe Afrika lange unterschätzt. Und ich habe lange eine falsche Vorstellung des Kontinents in mir getragen. «Wenn alles, was ich über Afrika wüsste, von den weit verbreiteten Bildern herrührte», sagt die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie, «würde auch ich denken, dass Afrika ein Ort mit unbelehrbaren Menschen ist, die sinnlose Kriege führen, an Armut und Aids sterben und nicht imstande sind, für sich selbst zu sprechen.»

Mein Afrika-Bild wandelte sich erst, als ich den Kontinent vor rund fünfzehn Jahren mit eigenen Augen kennenlernte. Der Studienaufenthalt, viele weitere Reisen und zwei längere Arbeits­aufenthalte in Senegal und Ghana haben meinen Blick auf das subsaharische Afrika seither radikal verändert. Zugleich wurde mir mit jeder Reise – und jeder Rückkehr – klarer, wie verzerrt die hiesige Wahrnehmung des Kontinents ist.

Das zeigt sich bereits beim Blick zurück. Noch immer gilt Afrika in der gängigen europäischen Wahrnehmung als weitgehend geschichtsloser Kontinent. In Schulbüchern taucht er, wenn überhaupt, erst in jenem Moment auf, da sich europäische Forschungsreisende aufmachen, die Quelle des Nils, des Kongos oder des Nigers zu entdecken. Später folgen die Versklavung und der Kolonialismus – und wenig mehr. So scheint es, als habe Afrika erst zu existieren begonnen, als die fremden Mächte den Kontinent eroberten.

Dabei wäre das Weggelassene für das Verständnis essenziell. Etwa die leistungsfähigen afrikanischen Reiche, die im Mittelalter vielerorts existierten. Die komplexen Organisations- und Handelsstrukturen, die die Menschen vor Ort schon Jahrhunderte zuvor etabliert hatten. Die Armeen, die sich gegen die Kolonialmächte behaupteten. Oder die äthiopischen Gesandten, die – verkehrte Welt! – schon im 15. Jahrhundert Europa erkundeten.

Man erzähle die Geschichte Afrikas dramatisch falsch, sagt der amerikanische Historiker und langjährige Afrika-Korrespondent Howard French. Seine Rolle werde seit Jahrhunderten «trivialisiert, gelöscht, geschmälert». Die Folgen reichen weit. Was man nicht kennt, wird zur Projektionsfläche von Stereotypen und pauschalisierendem Halbwissen. Der nigerianische Autor Dipo Faloyin schreibt, Afrika sei für viele Fremde schon immer eher eine Vorstellung gewesen als ein realer Ort: «eine Vorstellung von Leid und Kampf, eine Vorstellung von Gewalt».

Dieser eindimensionale, ignorante Blick auf unseren südlichen Nachbarkontinent hat sich bis heute kaum verändert. «Hic sunt leones», schrieben die Römer in ihren Atlanten einst über die (aus ihrer Sicht) unentdeckten Gebiete südlich der Sahara: Hier seien die Löwen. Viel diverser ist das europäische Afrika-Bild seither nicht geworden. Hunger, Konflikte, Despoten, wilde Tiere – in vielen Köpfen sind das die Schlagworte, die den Kontinent beschreiben. Aus einer Weltregion mit 54 Ländern, mehr als zweitausend Sprachen und knapp 1,5 Milliarden Menschen wird so ein ewiges Herz der Finsternis.

Mir zeigen sich diese negativen Pauschalurteile über Afrika besonders dann, wenn ich mit Fragen zum Kontinent konfrontiert bin. Ob es da gefährlich sei, werde ich oft gefragt – unabhängig davon, ob meine Reise ins friedliche Gha­na oder in den Osten von Kongo-Kinshasa führt. Entlarvend sind auch die häufigen «Gibt es»-Fragen: Supermärkte, Universitäten, Taxis, Spitäler, Internet, Bier – gibt es das dort? (Ja, gibt es.) Auffallend ist schliesslich, dass Fragen über Afrika fast ausnahmslos auf Probleme fokussieren.

Mir scheint, als wären viele hier nicht imstande, sich auf dem Kontinent einen Alltag vorzustellen. Als würden sie übersehen, dass die Normalität für die meisten Menschen in Afrika gar nicht so anders aussieht als unsere eigene. Und dass in Lusaka oder Dakar dieselben Themen das Leben prägen wie in Bern oder Paris: Familie, Hobbys, Arbeit. Und Musik, Film, Sport.

Die Gründe für dieses Malaise sind vielfältig und reichen über die Mängel unseres eurozentrischen Geschichtsunterrichts hinaus. Da ist zum einen die Tatsache, dass kaum jemand in Europa Afrika aus eigener Erfahrung kennt. Die rund fünfzig Länder südlich der Sahara verzeichnen pro Jahr zusammen weniger als halb so viele Touristen wie Spanien; die wenigsten von ihnen stammen aus Europa.

Was man hier über Afrika zu wissen meint, stammt deshalb fast immer aus zweiter Hand. Die mediale Berichterstattung zeichnet das Geschehen in Afrika oft in groben Strichen und ohnehin fast nur dann, wenn sich Kriege und Katastrophen ereignen. Der Kontinent werde in den Medien oft wie durch ein umgekehrtes Fernglas betrachtet, schreibt der langjährige deutsche Afrika-Korrespondent Bartholomäus Grill treffend: «Das Objekt rückt in die Ferne, seine Feinstrukturen werden unkenntlich.»

Gleiches gilt für die Öffentlichkeitsarbeit vieler NGO und Hilfswerke. Ihre oft dramatischen Kampagnen – «Dürre in Ostkongo», «Gewalt im Sudan», «Hunger in Madagaskar» – fussen zwar auf der hehren Absicht, Spendengelder zu generieren. Doch sie zementieren zugleich das Bild eines Orts des ewigen Leidens, an dem es an fast allem fehlt. Auch an der Fähigkeit, aus eigener Kraft Fortschritte zu erzielen.

Nicht zuletzt hängt unsere verzerrte Sicht auf den afrikanischen Kontinent mit einem karto­grafischen Kompromiss zusammen. Es ist nicht möglich, die Weltkugel auf eine zweidimensionale Karte zu projizieren, ohne Längen-, Flächen- oder Winkelverhältnisse zu verfälschen. Doch für Afrika hat die winkeltreue, im 16. Jahrhundert für den Schiffsverkehr entwickelte Mercator-Projektion der Weltkarte besondere Folgen: Heute in jedem Schulatlas abgebildet, lässt sie Gebiete grösser erscheinen, je weiter weg sie vom Äquator liegen.

Afrika wird dadurch deutlich zu klein dargestellt, Europa, Russland und Nordamerika erscheinen dagegen zu gross. Während beispielsweise Kongo-Kinshasa auf den meisten Weltkarten kleiner aussieht als Schweden, ist es in der Realität fünfmal grösser. Die Schweiz hätte im vermeintlich kleineren Kamerun in Wahrheit über elfmal Platz. Wer einen dreidimensionalen Globus anschaut, wird diese Irreführung leicht erkennen. Erst hier – oder auf flächentreuen Weltkarten – wird deutlich, wie gross Afrika tatsächlich ist: Auf dem zweitgrössten Kontinent der Erde liessen sich nebst Europa problem­los auch Indien, die USA, China und Japan unterbringen. Dabei ist die Geometrie der Weltkarte keine Bagatelle. Viele von uns haben sie ver­inner­licht, sie prägt unser Weltbild. Und sie lässt uns nebst der Grösse auch die Bedeutung Afrikas unterschätzen.

Man mag einwenden, dass die Kritik an der kollektiven Wahrnehmung Afrikas vorab von akademischer Bedeutung sei. Und dass sie keinen Einfluss darauf habe, was vor Ort passiert. Ich bin anderer Meinung. Die Attribute, die wir einem fremden Ort zuschreiben, haben Auswirkungen auf unsere Beziehungen zu ihm. Wo wir investieren, wohin wir in die Ferien fahren und wie wir den Menschen einer Herkunftsregion begegnen, hängt genau davon wesentlich ab.

Zudem hat das negative Bild des Kontinents auch in Teilen Afrikas selbst Spuren hinterlassen. Immer wieder habe ich bei Begegnungen das Gefühl, dass Jahrzehnte der Unterdrückung, denen Jahrzehnte der Unter- und Geringschätzung folgen, in den Köpfen der Betroffenen Selbstzweifel gesät haben. Viele scheinen nicht recht daran zu glauben, dass ein Aufbruch gelingen kann – und dass sie etwas zu ihm beitragen können. Diese emanzipatorische Krise hat viele Gesichter. Ich glaube sie zu erkennen in einer sambischen Provinzstadt, wo sich Tausende junge Männer um die Verwertung von Minenabfällen streiten, während man die Minen selbst anstandslos den ausländischen Firmen überlässt. Ich meine sie zu bemerken in den Ministerien in Côte d’Ivoire, wo man sich gegängelt fühlt durch die internationale Schokoladeindustrie, obwohl man als Kakaoweltmarktführer die Zügel in den eigenen Händen hielte. Und ich sehe sie bisweilen beim Besuch von Entwicklungsprojekten, wo manche Hilfsempfänger die Bittstellerrolle so verinnerlicht haben, dass sie zu vergessen scheinen, dass ihr Schicksal nicht nur von anderen abhängt. «Unsere einzige Schwäche ist es, dass wir unsere Stärke nicht kennen», sagt der senegalesische Au­tor Felwine Sarr.

So dringend also eine Abschaffung der negativen und verkürzten Afrika-Stereotype wäre, so klar ist auch: Es wird Zeit brauchen, um neue, angemessenere Bilder des Kontinents im Bewusstsein festzusetzen. Dennoch stehen die Zeichen auf Wandel. Das hängt wesentlich damit zusammen, dass die Welt immer afrikanischer wird – und zwar in rasantem Tempo. Während die Bevölkerung in weiten Teilen Europas und in den meisten anderen Weltregionen abnimmt, wächst sie in Afrika deutlich. Schon heute kommen 30 Prozent aller Kinder in Afrika zur Welt, 2050 werden es 40 Prozent sein. Bereits in zwanzig Jahren dürfte Afrikas Bevölkerung fünfmal grösser sein als diejenige Europas. Im Jahr 2100 werden gemäss Uno-Prognosen vier von zehn Menschen in Afrika leben. Dieser Megatrend wird – wenngleich noch kaum diskutiert – die Welt im 21. Jahrhundert prägen. Mit ihm sind grosse Herausforderungen verbunden; viele Länder Afrikas sind schlecht auf das enorme Wachstum vorbereitet.

Zugleich werden wir uns durch diese globale Gewichtsverschiebung fast zwangsläufig stärker mit Afrika auseinandersetzen. Gerade in einem schrumpfenden, alternden Europa ist es zunehmend unklug, den wachsenden Nachbarn als peripheren, hoffnungslosen Monolithen zu sehen. Die Ignoranz gegenüber Afrika wird immer stärker ein Ausdruck der eigenen Provinzialität und Rückwärtsgewandtheit.

Auch in Afrika selbst hinterlässt das Wachstum Spuren. Der Kontinent wird künftig stärker als bisher eine zentrale Rolle in der Welt einfordern. In der Populärkultur lässt sich das bereits heute ablesen. Am globalen Siegeszug des Afrobeats etwa, des westafrikanischen Musikstils. Oder an Filmemachern und Modemacherinnen, die global Beachtung finden.

Ganz wesentlich verändern wird sich auch die Lebensrealität in Afrika. Noch lebt die Mehrheit des Kontinents auf dem Land. Doch afrikanische Städte stehen punkto Wachstumsraten weltweit an der Spitze; rund fünfhundert Mil­lionen Afrikanerinnen und Afrikaner werden in den kommenden zwanzig Jahren vom Land in die Stadt ziehen. Am besten sichtbar ist diese rasante Entwicklung heute am Golf von Guinea. An der Atlantikküste zwischen der nigerianischen Riesenmetropole Lagos und der ivoirischen Grossstadt Abidjan entsteht auf einer Länge von eintausend Kilometern gerade die grösste urbane Zone der Welt. Laut Schätzungen wird die Bevöl­kerung dieses tropischen Küstengebiets in den nächsten siebzig Jahren auf rund eine halbe Milliarde Menschen anwachsen.

Wer von Lagos nach Cotonou und Lomé und dann weiter nach Accra fährt, erkennt bereits heute, wie rasch und grundlegend sich das Gesicht Afrikas verändert. Und wie wenig dieser pulsierende, vielfältige Küstenabschnitt gemein hat mit dem Bild von Agonie und Einöde.

Von meiner letzten Busreise zwischen Nigeria und Benin ist mir die Diskussion mit meinem Sitznachbarn in Erinnerung, einem ghanaischen Studenten, der viele Fragen stellte zur Schweiz. «Wir haben viele Probleme», meinte er, als ich ihn auf sein eigenes Land ansprach. «Doch eins ist klar», sagte er schliesslich und lächelte, «die Zukunft gehört uns.»